Nonkonformistin, Bürgerschreck und liebenswertes Monster

Von denen Auszenseiterinnen und Auszenseitern zu Ingolstadt - ein ungelahrter Vortrag anläßlich der Kulturpreis-Verleihung an Emmi Böck. Von Carl-Ludwig Reichert

Wie die gesamte Weltgeschichte zeigt, sind es zumeist nicht die wohlbestallten academici gewesen, welche die vordersten und weitest reichenden Entdeckungen gemacht haben; wir nennen bei dieser Gelegenheit nur den Columbus, einen abenteuerlichen Erzschelm, der nicht einmal wusste, wo er schließlich herauskam. Schon zwanzig Jahre davor (1472) hatte Herzog Ludwig der Reiche von Bayern-Landshut bekanntlich die Universität allhier gestiftet. Und es ist gleich ein extremer Außenseiter gewesen, der bald danach durch das Stadttor stiefelte, ein gewisser Dr. Faustus, ein alumnus diaboli, ein Besessener der Wissenssucht, aber bestimmt kein demütiger Diener der Wissenschaft.

Riecher fürs Abseitige
Der Rat von Ingolstadt, Außenseitern gegenüber mit dem universalen kleinbürgerlichen Riecher fürs Abseitige von jeher ausgestattet, wies ihn höchst vorsorglich schnell aus der Stadt; ob der Teufel ihn begleitete, ist nicht ganz klar; den berühmten Stein hätte er aber vielleicht auch nach dem Willen unserer heutigen Preisträgerin statt aufs Münster lieber aufs Rathaus schleudern sollen. Vermutlich war er unentschlossen, weil die tatsächliche Aufschlagsstelle ja ziemlich genau in der Mitte zwischen den beiden liegt, nahe dem Haus in der Theresienstraße, wo meine jung verheirateten Eltern wohnten und wo der Haindl Bepp seinen Tabakwaren-Laden hatte. Ich werde mich hüten, da Kausalitäten zu konstruieren, aber ein lustiger Zufall ist das schon.

Als Bayern in der Aufklärung langsam an Kontur und Kultur gewann, waren die kritischen Außenseiter um Westenrieder eine kurze Zeit lang einmal gefragt und durften in der neu gegründeten Akademie ein paar Zöpfe abschneiden. Auch an den Universitäten wehte ein frischerer Wind, doch kaum ein Hauch davon gelangte nach Ingolstadt, das damals fast ohne Studenten darniederlag, wie Johann Pezzl, seinerseits ein Außenseiter, logisch, in seiner Reise durch den Baierschen Kreis so sinnfällig machte.

"Der Ort ist klein, arm und nicht gesund"
Man könnte vielleicht denken, die Schuld läge an den Lehrern; aber an dem ist es nicht, wenigstens war es bisher nicht. ... Der Hauptfehler steckt darinn, dass die Universität in Ingolstadt ist. Der Ort ist klein, arm, nicht sehr gesund; ist ohne Hof, ohne Noblesse, ohne Theater, sogar ohne Buchhandlung. ... Die jungen Leute, welche selbst einen Platz für ihre Studienjahre auszuwählen haben, ziehen jede andere Universität dem traurigen Ingolstadt vor. ..." Pezzl sah nur ein winziges Licht am Ende des Tunnels: "Ganz aber haben die Musen noch nicht Sitz genommen, und allgemeine Liebe zur Litteratur ist noch lange nicht aufgewacht." Trotzdem empfahl er, die Universität zu verlegen, wie es dann auch 1800 geschah.

Es gab noch einen, der die Stadt im 18. Jahrhundert beschrieb, der heute vergessene Erfolgsschriftsteller Johann Martin Miller in seinem Bestseller Siegwart. Eine Klostergeschichte. Der unglückliche, mehrere Generationen von Leserinnen zu Tränen rührende Titelheld des 1776 erschienenen Romans studierte in einem Ingolstadt, das der Wirklichkeit recht gut abgeschaut war.

Von Ingolstadt ins Exil
Allerdings brachte dann das akademische Milieu von Ingolstadt den vielleicht radikalsten und staatsgefährlichsten Außenseiter des Jahrhunderts hervor, den Professor des geistlichen Rechts Adam Weishaupt, Gründer der Illuminaten. Sein kleiner, naiver aufklärerischer Bund mit den lustigen griechischen und römischen Tarnnamen wie Philo und Spartacus schaffte es tatsächlich, die damals Herrschenden in Bayern, den Kurfürsten und den Klerus, dermaßen zu provozieren, dass man Landesverrat witterte und den armen Mann ins Exil jagte. Natürlich unter tatkräftiger Mithilfe seiner Ingolstädter Kollegen und der dortigen Bürgerschaft. Dabei war die allersubversivste Tat der Illuminaten gewesen, dass sie sich die einfache Mehrheit im Zensurgremium gesichert hatten. Dass den Weishaupt damals auf der Flucht beinahe noch der Blitz getroffen hätte, sahen die braven Ingolstädter als Bestätigung der eigenen Rechtschaffenheit.

Dass von Ingolstadt aus durch Naturwissenschaftler wie Franz von Paula Schrank oder Hazzi die spätere bayerische Volkskunde wesentliche Impulse erhielt, scheint heute nur noch wenigen bekannt zu sein. Es ist aber so. Die Emmi Böck ist genau genommen deren Nachfolgerin.

Es war vermutlich dieses naturwissenschaftliche Renommee der Universität, das die neunzehnjährige Mary Shelley dazu bewog, einen der wahnsinnigsten Außenseiter der Weltliteratur, Dr. Viktor Frankenstein, an der Anatomie zu Ingolstadt wirken zu lassen und sein unglückliches Monster aus gestohlenen Leichenteilen vom Ingolstädter Friedhof zusammenzuschustern. Meine persönliche Vermutung dazu ist, dass die Shelleys, die auf deutsche Romane standen, den Siegwart gelesen hatten, aber das nur nebenbei.

Es ist natürlich kaum möglich, ein phantastisches Monster wie Frankenstein an Außenseitertum zu übertreffen, auch wenn es den Ingolstädtern lange unbekannt blieb - die erste deutsche Übersetzung erschien 1912, fast ein Jahrhundert später als die englische Ausgabe.

Kaum dokumentierte Stadtoriginale
Immerhin scheint es in der damaligen Zeit, von der mir noch meine Großmutter berichten konnte, einige kaum dokumentierte Stadtoriginale gegeben zu haben, wie den allen ehemaligen Kindern wohlbekannten Eha mid da langa Zeha. 1918 versuchten ein paar Außenseiter, die Dinge auch in Ingolstadt zu ändern. Der Arbeiter- und Soldatenrat Max Lindemeier zum Beispiel, ein entfernter Verwandter, der dabei an einem empfindlichen hinteren Körperteil verwundet wurde und für den Rest seines Lebens einen leichten Hinkefuß hatte.

Der Konformismus obsiegte, in Ingolstadt anscheinend ganz besonders, wo der Grökoz - der größte Konformist aller Zeiten - gern den alten Sanitätsrat besuchte, als er endlich kein Außenseiter mehr sein musste, weil die Großindustrie in ihn investiert hatte. Vor diesem Hintergrund ist klar, warum eine, die ausgerechnet in Ingolstadt Schriftstellerin wurde, scheitern musste. Es wäre vermutlich schon schwer genug geworden, wenn sie ein Wohlverhalten gezeigt hätte, aber nach dem Skandal um ein Stück, das keiner gesehen oder gelesen hatte, war der Ofen aus.

In diesem dem kreativen Außenseitertum nicht sehr zuträglichen Klima wuchsen die künftigen Monster aus Ingolstadt heran. Keiner hat was gemerkt, bis Anfang der Sechzigerjahre.

Monster im Mo
Die Monster-Brutstätte war natürlich das Mo, wo einmal einer unvergesslicherweise Villon-Verse vortrug - Ich bin Franzose, was mir gar nicht passt, und seh Paris, das unter mir jetzt liegt, ich hänge nämlich meterhoch an einem Ulmenast und spür am Arsch wie schwer mein Kopf jetzt wiegt - ich kann's nach dreißig Jahren noch auswendig. Und die, die auf die Brut aufpassten - da bin ich endlich beim Thema und fast schon am Ende - waren Knut Schnurer und später dann die legendäre Emmi Böck.

Ich hab sie gar nie richtig kennengelernt, weil ich kein Auto hab. Ich weiß aber von meinem Bruder, dass sie das manipulative Geschick des echten Außenseiters gehabt haben muss. Man stelle sich das einfach einmal vor: Feldforschung ohne Automobil.

Einmal, Mitte der Siebzigerjahre, als die Sparifankal ein Dach über dem Kopf suchten, waren wir doch mit der Emmi unterwegs, irgendwo zwischen Wackerstein und Hexenagger, wo seit den Limes-Soldaten keiner mehr gewesen ist und da sind wir ums Eck gebogen und da ist tatsächlich eine Art Haus gestanden und das war in einem unbeschreiblichen Zustand und da hat ein altes Weiberl gehaust, das uns etwas zugeschrien hat, den Weg betreffend und die Emmi hat sie gekannt, weil sie eine ihrer Informantinnen war. Und natürlich haben wir kein Haus gefunden, aber wunderbar gebrotzeitet, bei einem anderen Informanten und dann haben wir noch einen ganz kleinen Umweg gemacht von höchstens zwei Stunden, dahin und dorthin und haben außerordentlich seltsame Leute getroffen und so soll das, wenn man den Sagen um die Emmi glauben darf, meistens mit ihr gewesen sein.

Das Abseitige und das Verkannte
Und das ist aus meiner Sicht vollkommen in Ordnung. Denn wir Außenseiter machen schließlich das, was die anderen nicht wollen, können oder wissen. Dabei sind wir natürlich auf Hilfe, Unterstützung und manchmal sogar Almosen angewiesen. Nicht für uns, sondern für das, was uns gerade umtreibt, ob es nun die altbairische Sagenwelt ist, die verlorene Volksmusik, die verkannte Literatur, das Abseitige und Verkannte halt, das erst nach vielen Jahrzehnten, manchmal Jahrhunderten vom Kulturbetrieb der Konformisten akzeptiert werden wird.

Vielleicht geht es bei der Emmi jetzt ein bisschen schneller, immerhin hat sie es schon zu dem einen oder anderen Preis gebracht. Und wenn's kein Brunnen wird, wo das Wasser herausrinnt, dann wenigstens eine Gedenktafel, auf der meiner Meinung nach stehen sollte:

Emmi Böck.
Nonkonformistin, Bürgerschreck, bedeutende Sagenforscherin und rundum liebenswertes Monster aus Ingolstadt an der Donau.

 

Carl-Ludwig Reichert
geb. 1946 in Ingolstadt. Schriftsteller, Musiker, Privatgelehrter. Freier Mitarbeiter des BR als Autor, Moderator und Regisseur. Publikationen zur Jugend- und Popkultur. Rundfunksendungen, Bücher, Schallplatten. Er lebt in München.
www.calurei.de
www.wuidewachl.de