Ein reiches und uns alle bereicherndes Lebenswerk

Aus der Laudatio auf Emmi Böck anlässlich der Verleihung des Kulturpreises der Stadt Ingolstadt am 11. März 2001. Von Eberhard Dünninger

Als kluge Vermittlerin und nicht als missionarische "Botschafterin" ihrer Heimatstadt und der ihr südlich der Donau vorgelagerten Hallertau habe ich Emmi Böck schon gekannt und geschätzt, bevor wir uns persönlich begegnet sind. Ihre frühen einfühlsamen Bücher über Ingolstadt und die Hallertau, ihre ersten Sagensammlungen aus Stadt, Umland und Hallertau waren für mich wie ein Zauberschlüssel, der mir diese im besten Sinne altbayerische Stadt und ihren geschichtlichen und landschaftlichen Raum geöffnet hat. Der damalige Bezirksheimatpfleger der Oberpfalz, mein einstiger Mitschüler am Alten Gymnasium Regensburg, Dr. Adolf Eichenseer, unter vielen anderen Aufgaben auch erfolgreich für die Sagenüberlieferung seiner Region tätig, hat vor einem Vierteljahrhundert mir die persönliche Bekanntschaft mit Emmi Böck vermittelt. Da habe ich erst einmal erfahren, was es mit einer echten "Schanzerin" und ihrem Verhältnis zur Heimatstadt auf sich hat. Ich habe mir sagen lassen, dass es sich bei diesem Wort nicht um ein Beispiel so verbreiteten Städtespotts handelt, sondern um den unbestrittenen Ausdruck eines in der Geschichte dieser Stadt verwurzelten Selbstbewusstseins.

Blick über die Heimatstadt hinaus
Die Kulturwissenschaftlerin und Sagensammlerin Emmi Böck hatte damals freilich schon ihren Blick und ihr forschendes Interesse über die Heimatstadt hinaus auch auf die Donaustadt Regensburg und die Oberpfalz, auch auf das angrenzende Niederbayern gerichtet. Es war sicher eine glückliche Konstellation, dass sie nicht nur uns beamtete Regensburger und das fördernde Interesse des Bezirksheimatpflegers kennenlernen konnte, sondern auch unabhängige Regensburger wie ihren Verleger Fritz Pustet, den Fotografen Stefan Hanke und den Künstler Guido Zingerl, von ihr als Illustrator besonders geschätzt, der als "Donauschüler" seinen geistvollen Witz und zeitkritischen Scharfsinn auch seiner, unserer schwierigen Heimatstadt gewidmet hat.

Regensburg und die Oberpfalz waren wohl auch für Emmi Böck ein Schlüsselerlebnis. Wir haben, wie viele andere, damals auch rasch gespürt und erkannt, dass sie nach einem Studium der Germanistik und Volkskunde, nach Krankheitserfahrungen im Sammeln und schließlich in der Veröffentlichung von Sagen nicht nur einen Lebensinhalt gefunden, sondern sich eine Lebensaufgabe gestellt hatte. In Jahrzehnten der Sammelarbeit und zugleich Publikationstätigkeit hat sie inzwischen nicht nur das umfangreichste private Sagenarchiv Bayerns aufgebaut und eine Fülle von Sagenbänden veröffentlicht, so dass man sie einmal die "sagenhafteste Frau" Bayerns genannt hat. Emmi Böck hat mit ihren Büchern die Bedeutung Bayerns für die Sammlung von Sagen im 19. Jahrhundert in unserer Zeit erneuert und mit diesen wahren Volksbüchern nicht nur einen großen Leserkreis für bayerische Sagenstoffe gewonnen. Sie hat für ihre wissenschaftlich bedeutende Leistung auch außerhalb Bayerns Anerkennung der Fachwelt gefunden.

"Liebe zu den Dingen selber"
Emmi Böcks erstes Sagenbuch ist 1973 erschienen: "Sagen und Legenden aus Ingolstadt", 1998 ergänzt durch ihr Buch "Legenden und Mirakel aus Ingolstadt und Umgebung". Sie ist sich auf dem damit eingeschlagenen Weg in den folgenden Jahrzehnten des Sammelns und der Veröffentlichung von Sagen treu geblieben. 1975 folgten die "Sagen aus der Hallertau", gewiss einer der eindrucksvollsten ihrer Sagenbände, weil in diesen Zeugnissen lebendigen Erzählens die Unmittelbarkeit dieser ursprünglichen Landschaft so stark sichtbar wird.

Ihre "Sagen aus Niederbayern" (1977) zeichnen sich besonders durch eine kritische Sichtung der vorausgegangenen Überlieferung und Sagensammlungen dieses Raumes aus. Der verstorbene bayerische Historiker Benno Hubensteiner schrieb damals dazu im Vorwort: "eine großartige Zusammenschau getragen von glänzender Sachkenntnis, kompromisslosem Einsatz und Liebe zu den Dingen selber". Die gleichen Grundsätze hat Emmi Böck beim folgenden Band mit "Sagen und Legenden aus Eichstätt und Umgebung" weiterverfolgt, ein Band, in dem die Wiedergabe mündlich überlieferter und in Mundart aufgezeichneter Sagen besonders wichtig ist.

Ein beispielloses Sagenwerk
Ihr groß angelegtes, vom Bezirk Oberpfalz in Auftrag gegebenes und von der Bayerischen Landesstiftung gefördertes Forschungs- und Editionsvorhaben zur reichen oberpfälzischen Sagenlandschaft ist innerhalb von fünf Jahren erschienen. Keine bayerische und deutsche Region besitzt ein solches Sagenwerk. Es umfasst drei Bände: "Regensburger Stadtsagen, Legenden und Mirakel" (1982), "Sagen aus der Oberpfalz - aus der Literatur" (1986) und schließlich im Jahr 1987 "Sitzweil - Oberpfälzer Sagen aus dem Volksmund". Jeder dieser drei Bände hat sein eigenes Gewicht. In den "Regensburger Stadtsagen" hat Emmi Böck die Fülle der reichen literarischen Überlieferung dieser einzigartigen Stadt erschlossen und das geschichtliche Selbstverständnis und Selbstbewusstsein Regensburgs neu begründet. Der dritte Band "Sitzweil" erweitert dieses einzigartige regionale Sagenwerk um die Aufzeichnung von Sagen aus lebendiger Erzählüberlieferung, also die Ergebnisse so genannter Feldforschung. Gerade in diesem Band, aber auch in ihren folgenden Sagenbüchern (Neuburg/Schrobenhausen, Mittelfranken) erkennt man auch die Kontaktfreude und die Kontaktfähigkeit der Autorin, ihr Zusammenwirken mit Erzählern und Sammlern, aus dem dauerhafte Freundschaften entstanden sind.

Auf die Leute zugehen
Emmi Böck hat schon in ihren "Sagen aus der Hallertau" einmal dargestellt, worum es ihr geht: "Wenn die Leute spüren, dass man voll und ganz engagiert ist mit den Sagen, dass es einem ernst ist damit - sie spüren das sehr schnell - dann vertrauen sie einem oft etwas an, was ihnen sehr viel bedeutet. Ich glaube nicht, dass man mit den subtilen Methoden der neueren Erzählforschung mehr und besser aufschlüsseln kann als auf diese Weise: Auf die Leute zugehen und mit ihnen reden, Anteil nehmen an ihrem Leben, fragen." Auch so - so füge ich hinzu - wird Leben erfahren und bewältigt, im Zuhören und Erzählen. Die Brücken zwischen Menschen und Zeiten, zwischen Vergangenheit und Gegenwart sind auch in der Sagenüberlieferung oft schmal und brüchig, oft auch unterbrochen, unpassierbar, weil die Kontinuität der Erzählung gestört, die Erzählgemeinschaft aufgelöst ist und die menschlichen Beziehungen nicht mehr bestehen. Emmi Böck hat es verstanden, solche Brücken wiederherzustellen.

Sagen sind mehr als Erzählstoffe. Sagen - das sind die für viele von Jugend an vertrauten Volkserzählungen, die von ungewöhnlichen Erfahrungen der Menschen an der Grenze von Diesseits und Jenseits berichten, von unheimlichen Mächten und historischen Ereignissen, von Ankündigung des Todes und Wiederkehr der Toten, von gewaltsamem Tod und Überleben in Bedrängnis und Gefahr, von Unrecht und Ungerechtigkeit, von Schuld und Sühne, von Nachbarn und Feinden, von den alltäglichen Nöten des Lebens, die auch in der Sage erfahren, bewältigt und mitgeteilt werden. Die Wissenschaft, die Erzählforschung, hat dieser uns allen vertrauten Form der Volkserzählung eine klassische Definition gegeben und nennt die Sage eine "Erzählung von einem sonderbaren Erlebnis, das geglaubt und für wahr gehalten wird".

Zeugnis literarischer Kultur
Emmi Böck erfüllt unbestritten besonders zuverlässig die Voraussetzungen, welche von der Wissenschaft beim Sagensammeln an den Umgang mit literarischen Quellen und mündlicher Überlieferung gestellt werden, nämlich kritischen, sorgfältig prüfenden und auswählenden Sinn für die literarische Überlieferung und archivalisches Material, Aufgeschlossenheit für die Sagenerzähler und ihre Lebenssituation. Sie kann sich in die Denkwelt und die Erlebniswelt ihrer Gewährsleute hineinversetzen. Sie geht auf die Menschen zu und lässt sie zu Wort kommen zum Erzählen, sie kann zuhören und festhalten, was gefährdet ist, was zu verschwinden droht. Ihre Arbeit zeugt auch von großer Gewissenhaftigkeit in der sprachlichen Wiedergabe der Sagentexte und den zugehörigen wissenschaftlichen Erläuterungen, in der inneren und äußeren Gestaltung ihrer Sagenbücher. Sie sind ein Zeugnis wissenschaftlicher und literarischer Kultur.

Dr. Eberhard Dünninger
...ist seit 1992 Honorarprofessor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft (Bayerische Literaturgeschichte) an der Universität Regensburg. Er ist Ehrenmitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und Mitglied der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Von 1986 bis zum Eintritt in den Ruhestand 1999 leitete er die staatliche Bibliotheksverwaltung in Bayern.